Kleinwuchs bei Kindern – eine Chance zu wahrer Größe

Seit zwei Jahren arbeite ich nun in der Interdisziplinären Frühförderung und Familienbegleitung in Innsbruck. Parallel befinde ich mich nach wie vor in der entsprechenden berufsbegleitenden Ausbildung. Mittlerweile bin ich schon im letzten Ausbildungssemester – der Abschluss rückt immer näher.

Wie ihr euch vielleicht noch erinnern könnt, beschäftige ich mich in meiner Abschlussarbeit mit dem Thema „Frühförderung und Familienbegleitung bei Kindern mit Kleinwuchs“. Ich selbst bin von der Kleinwuchsform „Hypochondroplasie“ betroffen. Die Zeit der Recherchearbeit und des Schreibens erlebe ich gerade als sehr spannend, da ich persönlich dadurch so viel Neues zum Thema Kleinwuchs erfahre und mich in der Auseinandersetzung mit der Thematik mit meiner eigenen persönlichen Geschichte wiederfinde.

Langsam nimmt meine schriftliche Arbeit immer mehr Gestalt an. Im Prozess ist mir wieder bewusst geworden, wie wichtig es ist, von Kleinwuchs betroffene Kinder in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen und zu stärken. So sehe ich auch in der Frühförderung und Familienbegleitung die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes als den zentralsten Förderschwerpunkt. Dies passiert stets in enger Zusammenarbeit mit den Eltern. Heute möchte ich ein paar meiner Gedanken und Erkenntnisse zu dieser Thematik mit euch teilen:

Leider ist die Akzeptanz des Andersseins in unserer Gesellschaft immer noch keine Selbstverständlichkeit.  Neben den kleinen Einschränkungen im Alltag ist es vor allem die soziale Behinderung, die Stigmatisierung, die das alltägliche Leben mit Kleinwuchs erschwert. Immer noch existieren in der Gesellschaft viele Vorurteile diesbezüglich und leider fallen trotz aller Normalisierung und Inklusion Begriffe wie „Liliputaner“ oder „Zwerg“ heute immer noch. Dies erlebe ich auch persönlich im Alltag immer wieder. Vor allem, wenn ich in der Öffentlichkeit unterwegs bin. Wenn Kinder im Vorbeigehen ihre Eltern fragen, warum ich so klein bin und die Eltern dann peinlich berührt sind und nicht recht wissen, was sie ihren Kindern sagen sollen. In diesen Situationen ist es sinnvoll, die Menschen anzusprechen, den Kindern ihre Frage zu beantworten und damit auch die Eltern zum Nachdenken anzuregen. Es braucht viel mehr Aufklärungsarbeit. Einerseits mit dem betroffenen Kind, vor allem aber auch mit dem Umfeld der Familie. Es geht darum, dass sich die Personen, die im engeren oder weiteren Sinne etwas mit der Erziehung des von Kleinwuchs betroffenen Kind zu tun haben, mit dem Thema auseinandersetzen. Zunächst die Eltern im Elternhaus, dann die Kindergartenpädagoginnen, später die Lehrer, Ausbildner im Beruf, etc.

Kleinwüchsige Kinder sind nicht „lieb“ und „arm“, wie es ihnen oft von der Gesellschaft vermittelt wird. Verniedlichung ist leider immer noch ein zentrales Thema in der Begegnung von kleinwüchsigen Kindern mit der Gesellschaft.

In der Begleitung und Unterstützung von Kindern mit Kleinwuchs sehe ich die Stärkung der Kinder in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und die Förderung eines positiven Selbstbildes als einen zentralen Schwerpunkt. Meiner Empfindung nach ist es sogar DER wichtigste Schwerpunkt überhaupt. Dabei spielen auch die Eltern eine entscheidende Rolle:

„Die bedingungslose Liebe der Eltern stärkt die Selbstliebe des Kindes. Sie ist der wichtigste Schlüssel für eine glückliche Kindheit.“

(Nik Niethammer, Chefredakteur des Schweizer Elternmagazins Fritz+Fränzi)

Kinder sind bei ihrer Geburt bildlich gesprochen wie ein leeres Gefäß, welches nach und nach befüllt wird. Besonders in der ersten Zeit liegt diese Aufgabe des Befüllens vor allem bei den Eltern. Damit die Eltern diese wichtige Aufgabe übernehmen können, ist es zunächst wichtig, dass sie selbst die Diagnose ihres Kindes akzeptieren, es braucht den Weg von der Akzeptanz zur endgültigen Diagnose und von der Diagnose weiter zur bedingungslosen Liebe des Kindes. 

Die psychische Entwicklung kleinwüchsiger Kinder hängt wesentlich von den Wahrnehmungen, Bewertungen und Rückmeldungen der sozialen Umgebung ab, die sie aufgrund der sofortigen Sichtbarkeit ihrer Normabweichung immer wieder erfahren. Stigmatisierung in der Öffentlichkeit und Herabsetzungen in der Gleichaltrigengruppe können vorkommen. Immer wieder erleben es Kleinwüchsige Kinder auch, dass sie nicht altersadäquat angesprochen und behandelt werden.

Es gilt darauf zu achten, dass die Kinder ein gesundes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl entwickeln. Sie sollen ein positives, aber realistisches Bild von sich selbst haben. Die Kinder sollten sich selbst mögen, sich etwas zutrauen, aber auch ihre Schwächen sehen und akzeptieren können. Dazu benötigen sie keine Lobeshymnen, sondern wohlwollende Rückmeldungen und echte Erfahrungen mit Menschen, die sie so annehmen, wie sie sind.

Selbstvertrauen: Was kann ich?

Unter Selbstvertrauen wird eine Einschätzung der eigenen Kompetenz verstanden. Es wächst, wenn Erfolge erzielt werden, die auch entsprechend als solche gewertet werden. Selbstvertrauen ist wertvoll, weil es uns hilft, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen. Das Selbstvertrauen von Kindern wächst, wenn sie im Alltag immer wieder erleben dürfen:

  • Ich kann etwas! Ich habe Stärken und Talente.
  • Ich mache Fortschritte, wenn ich mich anstrenge und übe.
  • Ich kann mit Misserfolgen und Rückschlägen umgehen.
  • Ich kann mich meinen Ängsten stellen und sie überwinden.
  • Ich habe Einfluss: Andere greifen meine Ideen auf und lassen sich von mir begeistern.

Selbstwertgefühl: Ich bin als Mensch wertvoll

Menschen mit einem positiven Selbstwertgefühl empfinden sich als wertvoll, „gut genug“ und können sich selbst annehmen, inklusive ihrer negativen Facetten, ohne sich deswegen selbst zu bewundern oder dies von anderen zu erwarten. Beim Selbstwertgefühl steht somit nicht die Kompetenz im Vordergrund, sondern die Akzeptanz der eigenen Persönlichkeit. Kinder mit einem hohen Selbstwertgefühl mögen sich selbst und gehen liebevoll mit sich um. Damit sie diese Haltung entwickeln können, brauchen Kinder positive Erfahrungen mit anderen Menschen, die ihnen das Gefühl geben, liebenswert zu sein. Das Selbstwertgefühl von Kindern wird gestärkt, wenn sie beispielsweise erleben dürfen:

  • Ich habe Eltern, die mir zuhören, sich Zeit für mich nehmen und mich verstehen.
  • Ich habe Freunde, die mich gernhaben und mich so akzeptieren, wie ich bin.
  • Ich fühle mich in meiner Familie eingebunden und willkommen.
  • Meine Eltern fangen mich auf, wenn ich strauchle. Sie mögen mich auch, wenn ich etwas nicht kann oder ihre Erwartungen nicht erfülle.
  • Mein Umfeld nimmt meine Stärken, positiven Eigenschaften und liebenswerten Seiten wahr und gesteht mir meine Schwächen zu.

Ein hohes Selbstwertgefühl entwickeln Kinder dann, wenn sie erfahren dürfen, dass sie Teil einer Gemeinschaft sind, die sie annimmt, versteht, respektiert und in der sie sich geborgen fühlen.

Es geht darum, betroffene Kinder stark zu machen! Ein kleinwüchsiges Kind muss lernen zwischen Größe und Selbstwert zu unterscheiden. Wenn das Kind von Anfang an wahrnimmt, dass seine Eltern es unabhängig von seiner Körpergröße annehmen, so kann es diese Haltung übernehmen und verinnerlichen. Das Kind soll lernen, zwei selbstverständliche Wahrheiten klar auseinander zu halten:

  • Ja, ich bin kleiner als andere Kinder!
  • Ich bin genauso wertvoll und liebenswert wie andere Kinder!

An diese einfachen Wahrheiten kann man kleinwüchsige Kinder immer wieder erinnern, besonders wenn sie wiederholt Kränkungen durch ihr gesellschaftliches Umfeld erfahren. Das Erleben von annehmenden, menschlich respektvollen Beziehungen zu Eltern, Familie und Freunden, kann für das Kind wie eine „Impfung“ gegen Hänseleien und Schädigungen des Selbstwertgefühls durch kränkende Sprüche wirken. Spürt das vom Kleinwuchs betroffene Kind die bedingungslose Annahme durch seine Eltern und ein paar echte, richtige Freunde, so können ihm „irgendwelche“ Kinder, die „blöde“ Sprüche machen, auch tatsächlich egal sein, weil es emotional nicht auf sie angewiesen ist.

Die stärkste Überzeugungskraft haben hierfür wertschätzende Beziehungen zu Eltern, Familie und Freunden, in denen das Kind die Wahrheit dieser Sätze glaubwürdig, überzeugend und belegbar spürt.

  • Stärken betonen

Kleinwüchsige Kinder brauchen – wie alle Kinder – Erfolgserlebnisse für den Aufbau eines gesunden Selbstbewusstseins. Diese entstehen durch altersgemäße Anforderungen. Kinder, die um die eigenen Stärken wissen, können selbstbewusst auftreten. Es ist wichtig, den Kindern Dinge zuzutrauen und sie alters- und nicht größenentsprechend anzusprechen und zu behandeln.

  • Misserfolge und Niederlagen als Chance für Wachstum sehen lernen

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Das spüren auch die Kinder bereits. Anerkennung, manchmal auch Zuneigung, bekommt, wer gewinnt und Leistung erbringt. Die Aufgabe des näheren und weiteren sozialen Umfelds des Kindes liegt nun darin, dem Kind bedingungslose Akzeptanz und Wertschätzung zu vermitteln, unabhängig davon, wie es sich verhält und welche Leistungen es erbringt. Das Kind annehmen und schätzen, auch bei Fehlern und Unzulänglichkeiten. Es soll wissen: „Wenn ich Erfolg habe, dann freuen sich meine Eltern mit mir. Wenn ich einen Misserfolg habe, fangen sie mich auf.“ Diese Erfahrungen schützen Kinder davor, sich im Falle einer Niederlage selbst abzuwerten oder schuldig zu fühlen.

Selbstbewusstsein hat das eine Kind naturgegeben mehr, das andere weniger. Erziehung trägt jedoch immer einen großen Teil dazu bei, ob ein kleiner Mensch für sich einstehen kann oder nicht. Eltern sind sicherer Hafen, Feuerwehr und Boxsack zugleich. Kinder brauchen all das: Liebe und Sicherheit, Hilfe und Begleitung, Grenzen und Herausforderungen. Wie immer im Leben ist die richtige Balance der Schlüssel zum (Familien-)Glück und ein guter Boden für wachsendes und gesundes Selbstbewusstsein bei allen Familienmitgliedern.

Martina Junger

 

 

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